Auf der Spitze der Nadel

Professor Sörensen legte das Skalpell, mit dem er die Wirbelsäule der Ratte durchtrennt hatte, in die Klappschleuse und schloss sie.
»Dann wollen wir mal schauen!« Er verabreichte den Antagonisten und nickte sei¬nem Assistenten zu, der die Zeitnahme startete. Dann entfernte er die Kanüle aus dem Tier, das nur wenig später die Augen aufschlug. Er zog seine Arme aus den in den Kasten ragenden Handschuhen und gesellte sich zu dem zweiten Mann, der das Versuchstier bereits auf einem Monitor beobachtete. Das erbärmliche Fiepen wurde von dem Kunststoff des Isolators gedämpft, aber das Hin- und Herzucken des Kopfes, das Schaben der Vorderpfoten über den transparenten Boden machten die Verzweiflung des Nagers deutlich. Die Männer in ihren weißen Kitteln zeigten daran kein Interesse. Ihre Blicke waren auf die Hinterpfoten und den Schwanz des Tieres fixiert, die in unheimlichem Gegensatz zum Vorderkörper absolut reglos da lagen.
»Dort!«
»Ja, Giancarlo, ich habe es gesehen.« Das Zucken der Hinterläufe wiederholte sich, und Sörensen hüpfte vor Freude. »Großartig!«
Sein Assistent las einen Wert vom Computermonitor ab. »6:23! Nicht einmal sieben Minuten, um eine Querschnittslähmung zu heilen!«
»Ja, fantastisch.« Der Professor drückte dem Jüngeren die Hand auf die Schulter. »Es ist ein Wunder, Giancarlo, ein Wunder! Zwar nur bei einer Ratte, aber uns ist eine Wunderheilung gelungen.«
»Eine Wunderheilung?« Giancarlo atmete tief durch, blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, trat dann an das Computerterminal heran und begann, Befehle einzugeben. »Ja, Herr Professor, da haben Sie wohl recht. Leider.«
Es brauchte einige Augenblicke des fortgesetzten Starrens auf die inzwischen wieder umherlaufende Ratte, bis die Worte seines Assistenten in das Bewusstsein des Professors vorgedrungen waren und er sich vom Monitor abwendete. »Leider? Wieso leider, Giancarlo?« Er trat zu seinem Assistenten und blickte ihm über die Schulter. »Was tust du da?«
Sörensen griff nach Giancarlos Arm, wollte ihn daran hindern, weitere Befehle zur Datenlöschung in den Computer einzuspeisen, doch im selben Moment spürte er einen Stich in seinem Oberschenkel. Er blickte hinunter und sah Giancarlos Hand, die den Inhalt einer Spritze in sein Bein drückte, das sich unmittelbar darauf weigerte, seinen Anteil am Gewicht des Professors weiterhin zu tragen. Sörensen stürzte zu Boden.
Giancarlo drehte sich auf dem Stuhl zu ihm um und blickte auf ihn hinab. »Es tut mir leid, Herr Professor. Ich habe gerne mit Ihnen gearbeitet, und wir haben Großartiges erreicht.« Mit einer Geste schloss er ihr gesamtes Labor mit ein. »Aber mein … mein Vater«, er stand auf, »besteht darauf, die Definitionshoheit über Wun¬derheilungen zu bewahren.« Er zuckte mit den Schultern. »Über Wunder im Allgemeinen.« Giancarlo beugte sich zu Sörensen hinunter und schloss dessen Augen. »Und sein Wunsch ist mir heilig.« Er zeichnete mit seinen Fingern ein Kreuz auf die Stirn des Toten, sprach ein Vaterunser für ihn und setzte seine Arbeit am Computer fort.
Kurz darauf umrundete er den tot daliegenden Professor auf dem Weg zum Probenschrank. Er öffnete den hermetischen Verschluss und entnahm eine der zwei weiteren Spritzen mit der gleichen Charge von Nanobots, die der Professor der Ratte injiziert hatte. Er zog die Schutzkappe von der Kanüle und drückte ein wenig der Flüssigkeit heraus, während er zum Eingangsbereich des Labors hinüberschlenderte.
Er hielt die Spritze gegen das Licht und kniff die Augen zusammen, um die Nadel zu fixieren. »Schade, dass ich wohl nie erfahren werde, wie viele von euch auf der Spitze tanzen.«
Mit dem Ellenbogen schlug er die kleine Scheibe in der Wand ein und zog den Hebel, der das Isolationsbruchprotokoll auslöste. Fegefeuer verschlang Giancarlo Galluzo.

Text von Merlin Thomas